Die Globale Teleuberwachung des
21. Jahrhunderts
Nachrichten aus dem All
Im ausgehenden Jahrhundert wurde der Schritt von der Erde ins
All vollzogen: Unbemannte Raumkapseln, Menschen auf dem Mond, die
Bildübermittlung in Echtzeit und die globale Satellitenüberwachung
sind die wichtigsten Stichworte dieser Entwicklung. Was aber wandelt
sich, wenn alle Bilder jederzeit in allen Ecken der Welt und in
jedem Wohnzimmer abrufbar sind und gleichzeitig keine Bewegung auf
der Erde dem wachsamen Auge der Satelliten entgeht?
Von Paul Virilio *
* Philosoph und Urbanist. Autor u. a. von: "Rasender Stillstand";
aus dem Französischen von Bernd Wilczek, Frankfurt/M 1997 und
1998. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch,
"Stratégie de la déception", das am 23.
September 1999 in Paris erschienen ist.
Die in der Globalisierung mündende historische Phase verlangt
nach immer mehr Licht, immer mehr Sichtbarmachung. So entsteht zur
Zeit eine globale Teleüberwachung, die sich von allen ethischen
oder diplomatischen Voreingenomenheiten freimacht. Die derzeitige
weltweite Vernetzung der internationalen Aktivitäten wird in
absehbarer Zukunft ein zyklopisches, oder genauer gesagt, cyber-optisches
Sehen unumgänglich machen. Die wachsende globale Interaktivität
erzeugt zunehmend die Notwendigkeit einer panoptischen und totalitären
Sichtbarkeit. Auf die "virtuelle Luftblase" der Einheitsmarktwirtschaft
folgt nun jene visuelle Luftblase, bei welcher der Gewinn an Sichtbarkeit
bald dieselbe Multiplikatorenrolle zukommen wird wie dem Gewinn
bei der Finanzspekulation. Wobei die elektronische Optik inzwischen
gleich viel Licht bringt wie die Geschwindigkeit der elektromagnetischen
Wellen. Zusätzlich zur National Security Agency (NSA), die
mit dem System Echelon bereits weltweit den gesamten Telekommunikationsverkehr
- Telefon, Fax, Telex usw. - abhört(1), riefen die USA Ende
1996 eine neue Agentur ins Leben: die National Imagery and Mapping
Agency (NIMA). Aufgabe dieser dem Pentagon unterstehenden Agentur
mit etwa 10 000 Mitarbeitern sollte es sein, sämtliche von
militärischen Satelliten aufgenommenen Fotos zu zentralisieren
und einen Datenverarbeitungsstandard für diese Bilder zu erarbeiten,
den NIFTS.
Dieser Standard, der die Übermittlung der Bilder in Echtzeit
ermöglicht, war ursprünglich nur für das Verteidigungsministerium
und die Nachrichtendienste gedacht, doch die Bedeutung der weltraumgestützten
Beobachtung und ihre wirtschaftliche Nutzbarkeit sind den Theoretikern
des Cyber-Kriegs (InfoWar) nicht lange verborgen geblieben.
1997 bereits beschloss die NIMA, sich an einem "Global Information
Dominance" genannten Programm zu beteiligen, das die Aufgabe
hatte, den kommerziellen Bilderaustausch weltweit zu kontrollieren.
Um ihr Ziel zu verwirklichen, bietet die Agentur amerikanischen
und ausländischen Unternehmen, die ihre Datenverarbeitungssysteme
konvertibel machen und sich zu sehr kurzen Lieferfristen für
die Bilder verpflichten, bis zu fünf Millionen Dollar an. Die
NIMA leitet diese Dokumente an das US-amerikanische Militär
weiter, aber auch an zivile Kunden, amerikanische wie ausländische.
Um also das Entstehen eines freien Marktes der Bilder aus dem Weltraum
zu behindern, haben sich CIA und Pentagon zielgerichtet eine Politik
des groß angelegten Kaufs und Verkaufs von kommerziellen Bildern
ausgedacht. Mit dieser Agentur für globale Teleüberwachung
verfügen die USA nunmehr über eine ebenso wirksame Kontrollstruktur
im Bereich der internationalen Telekommunikation, wie sie es nach
dem Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der Kommunikationsüberwachung
des Ostblocks aufgebaut hatten.
Schauen wir uns nun einige neuere panoptische Ereignisse an: Am
12. April 1999 verbreitete der Fernsehsender ABC die Nachricht,
das Pentagon verfüge über Satellitenbilder, die die Existenz
von Massengräbern im Kosovo bewiesen. "Der Sender spricht
von etwa hundert Stellen mit frisch aufgeworfener Erde."(2)
ABC zeigte zwar keines dieser Bilder, doch die Auflösung der
Satellitenfotos ist so hoch, dass die Meldung glaubwürdig erscheint.
Zwei Tage zuvor, am 10. April, hatte das Pentagon Satellitenbilder
veröffentlicht, auf denen Gruppen von Kosovaren zu sehen waren,
die aus ihren Dörfern geflohen waren und auf Hügeln kampierten;
von einem möglichen Zusammenhang zwischen dieser Flucht und
vorherigen Gräueln war nirgends die Rede.
Während ehedem das Auge Gottes auf Kain lag bis zu seinem
Tode, wacht nun das Auge der Menschheit über den Erdteilen.
Man erahnt nunmehr die ethische und politische Dimension der von
der "Global Information Dominance" angestrebten visuellen
Überwachung des Erdballs, und man versteht die berechtigte
Sorge der Europäer hinsichtlich der Teleüberwachung, wie
sie die europäische Agentur EUCOSAT (Brüssel) kürzlich
- auf die Nachricht von der Gründung der NIMA hin - zum Ausdruck
brachte.
Nach den großen Ohren des Systems Echelon der National Security
Agency öffnen sich also die furchterregenden großen Augen
der National Imagery and Mapping Agency. Passenderweise verkündete
der Stabschef der US-Luftwaffe 1997 vor dem Repräsentantenhaus
in Washington: "Im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts werden
wir in der Lage sein, jedes größere Element, das sich
auf der Erdoberfläche bewegt, praktisch in Echtzeit zu orten,
zu verfolgen und anzuvisieren."(3)
Der Open Sky, ein altes Projekt aus dem Kalten Krieg, wird wirklicher
als geplant! Die Deregulierung des Luftverkehrs erstreckt sich nunmehr
auch auf die weltweite Verbreitung von Satellitenaufnahmen! Den
Himmel, der sich über uns wölbt, gibt es nicht mehr, er
tritt sein Leuchten an die Bildschirme ab, und irgendwann werden
die ersten Sonnenlicht-Reflexions-Satelliten auch das Dunkel der
Nacht Vergangenheit sein lassen. Die Geschwindigkeit des Lichts
im leeren Raum hat freilich nie der Fortbewegung gedient, sondern
lediglich dem Sehen, dem Vorher-Sehen. Die Grenzgeschwindigkeit
des Lichts ist also nur eine andere Bezeichnung des Sichtbarmachens
oder vielmehr des politisch-strategischen Sichtbarmachen-Wollens
der Jetztzeit. Dieser Echtzeit, die nun den echten Raum der Kontinente
beherrscht. Das indirekte Licht der Wellengeschwindigkeit hat, soviel
ist sicher, nichts mehr gemein mit dem direkten Licht der jahreszeitlich
schwankenden Sonneneinstrahlung, mit dem Wechsel von Tag und Nacht,
übrigens auch nicht mit astronomischen Ereignissen wie der
Sonnenfinsternis.
WAS sich jetzt verfinstert, das ist der irdische Horizont, jene
Linie, die einst das Sichtfeld begrenzte und die nun dem Bildschirm
weicht. So verabschiedet sich nicht nur das Bild oder der Ton des
Fernsehens, sondern die Wirklichkeit der sinnlichen Erscheinungen.
Die einstige Darstellung mittels eines Gemäldes oder einer
Fotografie wird abgelöst von der bezugslosen Darbietung dessen,
was gerade passiert, aber nicht hier, sondern anderswo, auf der
gegenüberliegenden Seite des Erdballs. So ist die alte Grenze
zwischen Himmel und Erde, an der sich bisher unsere jeweiligen Standpunkte
orientierten, unsichtbar geworden, sie lebt nur noch fort als mentaler
Horizont unseres unzuverlässigen Gedächtnisses.(4)
Die Himmelskunst hat eine sehr lange Geschichte, das Firmament
war vermutlich das erste Massenschauspiel. Im übrigen war die
Projektion von Filmen auf die Wolkendecke ein Lieblingsspiel der
30er Jahre. Und selbst die verdunkelten Säle der ersten Tonfilmkinos
hatten oft ein Schiebedach, durch das man, wenn die Jahreszeit es
erlaubte, auf den Sternenhimmel blicken konnte. Die Autokinos der
USA kamen schließlich ganz ohne Gebäude aus, und mit
der Dämmerung begannen auch die Nonstop-Lichtspiele im Drive-in.
Seltsam, wie oft man versucht hat - bislang ohne Erfolg -, Satelliten
in eine Umlaufbahn zu bringen, die nicht irgendwelche Daten, sondern
das Sonnenlicht zur Erde senden und so als "künstliche
Monde" fungieren sollten, damit in unseren Metropolen die Nacht
zum Tag werde, ähnlich diesen spiegelnden Kugeln, die das Licht
in den Discos tanzen lassen.(5)
Doch der allerjüngste Versuch, das Firmament und die Kunst
des bewegten Bildes zu vereinen, ist das im Europäischen Filmzentrum
in Babelsberg vom Team um Peter Fleischmann entwickelte CyberCinema.
Einen französischer Spezialisten ließ diese Entwicklung
aufhorchen: "Die Hälfte des europäischen Territoriums
ist mehr als dreißig Minuten vom nächsten Vorführraum
entfernt. Das ist viel."(6)
Das Bestreben, Filme per Satellit in abgelegenen Gebieten oder
privaten Vorführräumen spielen zu lassen, wird nicht nur
mit Problemen des Verleihbetriebs begründet, es hat indirekt
auch mit der demnächst zu erwartenden massenhaften Verbreitung
dieses tragbaren Kinos zu tun, von dem der Glasstron, Sonys Video-Brille,
nur ein teurer Prototyp ist. Die virtuelle Reise der "Siebten
Kunst" hat erst begonnen.
Es steht also zu erwarten, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert
der von Satelliten verbreitete digitale Bilderzauber flächendeckend
den Erdball überzieht und auch den letzten seiner Bewohner
erreicht. "Zum Film werden" ist dann das Schicksal jeden
"Erdendaseins", denn der Video-helm vermittelt das Gefühl,
nicht länger einem "äußerlichen" Schauspiel
beizuwohnen, sondern den Film "von innen" mitzuerleben!
Cyber-optische Zukunftsvision, wo der Unterschied zwischen Virtualität
und Realität nicht mehr feststellbar ist, wo die Projektions-Illusion
die Licht-Wirklichkeit ersetzt. Die Projektion der virtuellen Realität
einer Ortsveränderung verdrängt in Zukunft die gegenwärtige
Realität des Reisens, aller Reisen. Zum Beispiel die neuesten
Erdumrundungsrekorde der Stratosphärenballone, dieser Pseudosatelliten
von der Art eines Breitling Orbiter III, der in weniger als drei
Wochen zum ersten Mal die Welt umrundete, indem er sich vom Jetstream
tragen ließ, dem Luftstrom, der den Planeten von West nach
Ost umkreist: Ist das nicht schon der Abschied von der Navigation?
Es ist eine Art "Surfen", gar nicht so verschieden vom
Surfen der Web-Cam-Freaks, die auf ihren Bildschirmen Kontinente
virtuell überfliegen. Die Bullaugen, durch welche die zwanzig
Tage lang in einer winzigen druckdichten Kabine eingeschlossenen
Ballonfahrer die Ozeane, die Erde und ihre Kontinente betrachten
konnten, waren kaum großer als Computerbildschirme.
Bezeichnend für diese Verdrängung wirklicher Navigation
durch virtuelle Navigation ist übrigens auch die Tatsache,
dass einer der beiden Ballonfahrer, der Schweizer Psychiater Bertrand
Picard, den Stress und die nervliche Belastung einer solchen Fahrt
mit Hypnose bekämpft, die für ihn eine Art Psychotherapie
ist: "Im Ballon muss man die Höhe ändern, wenn man
die Richtung ändern will", erläutert er. "So
muss auch der Mensch lernen, sich auf eine bestimmte spirituelle
Höhe zu begeben, um eine anderer Richtung zu finden, mit der
er wieder Herr seines Lebens werden kann."(7)
Im Nasa-Zentrum, das im Sommer 1998 zum Video-Regieraum wurde,
unterschieden sich die Computer-Fachleute kaum noch von der Masse
der Fernsehzuschauer, die im Juli 1969 die Mondlandung von Apollo
11 mitverfolgten. Die strahlende Zukunft der Weltraumfahrt wird
denn auch so aussehen, dass man den Raum nicht mehr real erforscht,
sondern sich mit Messungen automatischer Sonden begnügt.
Auch hier tritt an die Stelle des interstellaren Reisenden der
Telezuschauer und Telesteuerer der Nasa. So erklärt Edward
Stone, Direktor der Steuerungszentrale für die amerikanischen
Raumsonden und Vater der vor zwanzig Jahren gestarteten Programme
Voyager 1 und 2: "Diese automatischen Raumfahrzeuge sind eine
höhere Leistung als die bemannte Raumfahrt oder die Eroberung
des Mondes. Diesen beiden Robotern verdanken wir sehr viel mehr
Wissen über das Sonnensystem als sämtlichen Astronomen
seit Ptolemäus, weil sie an Orte gegangen sind, wo kein vom
Menschen hergestelltes Instrument je Messungen vorgenommen hat."
Das interplanetare Abenteuerspiel ist aus, und bald kommt auch das
Aus für den arbeitenden Menschen, diesen "Navigator der
bemannten Flüge", der nicht nur Apparate messen ließ,
sondern auch mit eigenen Augen die Größe der Wirklichkeit
der irdischen - und der überirdischen - Welt wahrnahm. Hören
wir das Zeugnis der Passagiere der fünften Discovery-Mission:
"Am ersten Tag betrachteten wir unser Land. Am dritten oder
vierten Tag zeigten wir uns die Kontinente. Am fünften Tag
hatten wir alle begriffen, dass es nur die Erde gibt."
Doch nach dieser Sicht-Erweiterung durch mehrwöchigen oder
mehrmonatigen Aufenthalt in der - mittlerweile vom Untergang bedrohten
- Raumstation Mir bleibt nur noch die Betrachtung der ewigen Nacht,
des Schweigens dieser unendlichen Räume, wo Entfernungen keinen
Sinn haben, weil die Dauer der Reise die biologischen Grenzen übersteigt.
Es sei denn, man klont die Besatzungen, indem man, so wie man gestern
die mehrstufige Rakete erfand, die Auferstehung durch Verdoppelung
praktiziert, um jahrzehntelang mit Raketengeschwindigkeit (40 000
Kilometer pro Stunde und mehr) vielleicht in die Nähe anderer
Galaxien zu gelangen. Vielleicht wird ja auch die Lichtgeschwindigkeit
unterlaufen und der Passagiertransport durch Teleportation ersetzt!
Aber ist es nicht letztlich dasselbe, wenn weit entfernte Apparaturen
per Funk gelenkt werden, wie beispielsweise der Roboter Sojourner
während der Marsmission Pathfinder? Die Wirklichkeit der Handlung
eines Subjekts - des Telebedieners - wird plötzlich verdoppelt,
da er kaum noch mit seinem Handeln impliziert ist, sondern nur noch
dupliziert durch sein Entfernt-Sein, das sein In-der-Welt-Sein ist.(8
)Hören wir, wie sich ein französischer Wissenschaftler
zu den Bildern äußert, die Voyager 2 im Jahr 1989 zur
Erde sendet, als er in die Nähe des Planeten Neptun gelangt:
"Ich komme mir vor, als stünde ich auf dem Back jenes
Schiffes, mit dem Christoph Kolumbus 1492 an der amerikanischen
Küste anlegte."
Die raum-zeitliche Wirklichkeit unserer physischen Fortbewegung
und die Perspektive, nach der sich unsere Sicht der Welt seit über
fünf Jahrhunderten richtete, weichen so allmählich einer
Art Stereo-wirklichkeit: einer gegenwärtigen (unmittelbaren)
Wirklichkeit, in der sich unsere Körper fortbewegen, und eine
virtuelle (multimediale) Wirklichkeit, in der unsere Beziehung zur
Welt und zu weit entfernten, auf anderen Kontinenten, auf der anderen
Hemisphäre lebenden Menschen eine immer größere
Rolle spielen. Mit dieser Dominanz des orbitalen Standortes erzeugt
die Unzahl der Beobachtungssatelliten, die im Orbit platziert werden,
zunehmend eine globalitäre Sicht-Weise. Wer sein Leben gestalten
will, muss nicht mehr das Geschehen vor ihm, sondern über ihm
im Auge haben. Die zenitale Dimension übersteigt - buchstäblich
- bei weitem die horizontale, und das ist keine Nebensächlichkeit,
denn dieser "Standort des Sirius" bedeutet das Ende jeglicher
Perspektive.
dt. Josef Winiger
(1) Vgl. "Unter Freunden gibt es keine Geheimnisse",
Le Monde diplomatique, Januar 1999.
(2) Le Monde vom 13. April 1999.
(3) Libération vom 20. April 1999.
(4) Es gibt ja bereits das Satelliten-Positionierungssystem Global
Positioning System (GPS).
(5) Das Projekt Znamja ("neues Licht"), ein von der Raumstation
Mir installierter Weltraumspiegel, scheiterte im Winter 1998/99
zum zweiten Mal.
(6) Le Monde vom 28. November 1998.
(7) L'Evénement vom 25. März 1999.
(8) Auf der Suche nach einem "Schutzheiligen" sind Internet-Freaks
auf den heiligen Pedro Regalado als "Patron der Internauten"
gestoßen, der die mystische Fähigkeit besaß, gleichzeitig
an zwei Orten zu sein. Das Kunststück hat einen Namen: Bi-Location.
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